Status quo der Gefährdungslagen
Die Gefährdung für das Infrastruktursystem Verkehr und Mobilität durch systemische Risiken betrifft verschiedene Teile des Infrastruktursystems und ist unterschiedlich akut. Die Funktionsfähigkeit und Stabilität des Verkehrs- und Mobilitätssystems werden derzeit vor allem durch Wetterextreme, Cyberkriminalität und Versorgungsengpässe bedroht. Um diesen Risiken und ihren Folgen zu begegnen, ist die Robustheit des Infrastruktursystems entscheidend. Die Gesamtrobustheit des gegenwärtigen Infrastruktursystems wird im Rahmen unserer Befragung des Resilienz-Radars als mittel eingeschätzt, während sie gegenüber Pfadabhängigkeiten, Cyberkriminalität, Versorgungsengpässen und auch gesellschaftlicher Polarisierung als eher gering bewertet wird. Es ist daher wichtig, aufkommende Störereignisse und Krisen frühzeitig zu erkennen und die vorhandenen Erkenntnisse zur Entwicklung innovativer Maßnahmen und zur Steigerung der Resilienz zu nutzen.
Das Gefährdungspotenzial durch die stark miteinander verbundenen systemischen Risiken globale Erwärmung und Wetterextreme ist für das gesamte deutsche Verkehrs- und Mobilitätssystem besonders hoch [1]. Extremwetterereignisse sind eine der Hauptursachen für Unterbrechungen des Personen- und Güterverkehrs. Die Verkehrsträger Luft, Wasser, Schiene und Straße sowie alle Verkehrsmittel können plötzlich und schwerwiegend von Extremwetterereignissen betroffen sein [2]. Die im Zuge der globalen Erwärmung zunehmende Häufigkeit von Extremwetterereignissen, wie Hitzewellen oder langanhaltende Dürren, wirkt auf alle Bereiche des Infrastruktursystems.
Die voranschreitende Digitalisierung und Vernetzung im Verkehrs- und Mobilitätssystem können einerseits die Effizienz und Funktionalität aller Systembereiche erheblich steigern, bergen jedoch andererseits neue Risiken bzw. verstärken bereits bestehende Gefährdungspotenziale. Insbesondere die Eintrittswahrscheinlichkeit für die systemischen Risiken Cyberkriminalität sowie Technikversagen und eingeschränkte Technikbeherrschbarkeit nimmt vor dem Hintergrund der Digitalisierung des Infrastruktursystems zu. Hardware- oder Softwarefehler, Ransomwareangriffe, bei denen Daten verschlüsselt und erst gegen Lösegeld wieder freigegeben werden, oder auch Datenschutzverletzungen durch Sicherheitslücken bringen ein erhöhtes Sicherheitsrisiko für alle Bereiche im Infrastruktursystem Verkehr und Mobilität mit sich [3].
Ein substantielles Gefährdungspotenzial für das Verkehrs- und Mobilitätssystem geht von Epidemien und Pandemien aus. Die COVID-19-Pandemie hat gezeigt, dass es durch krankheitsbedingte massive Personalausfälle und Kontaktsperren zu erheblichen Herausforderungen und Einschränkungen für das gesamte Infrastruktursystem – von der Luftfahrt über die Logistik bis hin zum öffentlichen Verkehr – kommen kann [4]. Die Schäden betrafen alle Systembereiche: von der Produktion von Fahrzeugen und Komponenten über Planung, Bau und Unterhalt der Infrastruktur bis zum Betrieb der Infrastruktur. Die weltweit verhängten Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie, wie Lockdowns, Kontaktbeschränkungen und Transportverbote, führten auch zu erheblichen wirtschaftlichen Verlusten im gesamten Infrastruktursystem [5]. Zudem haben sich seit der COVID-19-Pandemie Veränderungen in der Verkehrsmittelnutzung ergeben: Der Anteil derjenigen, die das Auto dem öffentlichen Personennahverkehr vorziehen, ist im Vergleich zur Zeit vor Corona um fast 10 % gestiegen [6].
Blackouts bergen ein erhebliches Gefährdungspotenzial für das gesamte Verkehrs- und Mobilitätssystem, insbesondere für den reibungslosen Betrieb der Infrastruktur. Stromabhängige Komponenten aller Verkehrsträger fallen bei einem Blackout entweder sofort oder innerhalb weniger Stunden aus. Dies führt beispielsweise zu Ausfällen von Ampelsystemen und Tankstellen oder zur Beeinträchtigung der elektrisch gesteuerten Gleisweichen. Die Eintrittswahrscheinlichkeit eines flächendeckenden Stromausfalls wird für Deutschland insgesamt jedoch als eher gering eingeschätzt [7]. Das TAB hat bereits 2010 detaillierte Wirkungsanalysen zu einem Blackout in Deutschland veröffentlicht.
Auch von dem systemischen Risiko geopolitische Konflikte geht ein hohes Gefährdungspotenzial aus, welches sich vor dem Hintergrund aktueller politischer Entwicklungen weiter erhöht. So führte beispielsweise der Angriff der Huthi-Milizen auf Schiffe im Roten Meer dazu, dass längere, aber sichere Transportrouten gewählt wurden, die mit höheren Kosten sowie Lieferverzögerungen einhergingen. Zudem zeigten sich die Folgen der Angriffe in einem massiven Anstieg an Versicherungskosten für die Handelsschiffe [8]. Vor allem die Bereiche Produktion von Verkehrsmitteln und Komponenten sowie der Betrieb der Infrastruktur sind von geopolitischen Konflikten grenzüberschreitend betroffen [9].
Versorgungsengpässe bei Energie und kritischen Rohstoffen führen zu steigenden Preisen bei allen Verkehrsmitteln und insbesondere für Pkw [10]. Vor allem mit Blick auf das Erreichen der Transformationsziele des Verkehrs- und Mobilitätssystems ist das systemische Risiko zunehmend relevant und mit einer steigenden Eintrittswahrscheinlichkeit verbunden. Versorgungsengpässe, auch ausgelöst durch geopolitische Konflikte, sowie eine steigende Nachfrage nach kritischen Rohstoffen, wie Kobalt oder auch Lithium für Elektrobatterien, wirken sich vor allem auf die Bereiche Produktion von Fahrzeugen und Komponenten, Planung, Bau und Unterhalt der Infrastruktur, aber auch auf den Betrieb der Infrastruktur aus.
Des Weiteren hat die gesellschaftliche Polarisierung als systemisches Risiko eine mittlere Gefährdungslage für das Infrastruktursystem und wirkt vor dem Hintergrund der Verkehrs- und Mobilitätswende insbesondere auf das Mobilitätsverhalten sowie die Systembereiche Betrieb der Infrastruktur und Transport- und Mobilitätsleistungen. Zugangsmöglichkeiten und die Nutzung bestimmter Verkehrsmittel sind zunehmend abhängig von Einkommen, mobilitätsbezogener Kaufkraft, Wohnumfeld, verfügbarer Verkehrsinfrastruktur, Bildungsniveau und der Fähigkeit zur Nutzung komplexer Verkehrsangebote [11][12].
Das systemische Risiko der Machtkonzentration hat gemäß der Quellenanalyse für das Verkehrs- und Mobilitätssystem gegenwärtig ein mittleres Gefährdungspotenzial, welches durch die zunehmende Verbreitung digitaler Technologien weiter zunimmt [13]. Die Digitalisierung führt zu neuen Abhängigkeiten in allen Bereichen des Infrastruktursystems. So sind beispielsweise deutsche Fahrzeughersteller oder auch der öffentliche Nahverkehr zunehmend von Technologieunternehmen oder Plattformbetreibern abhängig. Sie benötigen sowohl neue Hardware für alle Fahrzeuge als auch komplexere digitale Systeme und Vernetzungstechnologien [14][15].
Das systemische Risiko Pfadabhängigkeiten gefährdet das Erreichen der Transformationsziele und wirkt vor allem auf die Bereiche Produktion von Fahrzeugen und Komponenten, Planung, Bau und Unterhalt der Infrastruktur, aber auch auf den Betrieb der Infrastruktur. Pfadabhängigkeiten entstehen, wenn der Übergang zu alternativen Optionen erschwert oder verhindert wird [16]. Die institutionellen Steuerungs- und Regelungsmechanismen sowie langfristige Investitionen im Verkehrs- und Mobilitätssystem sind seit Jahrzehnten auf die Marktdominanz und den Erhalt von Verbrennungsmotoren sowie eine geeignete Infrastruktur für den Individual- und Güterverkehr ausgerichtet. Insbesondere die Kosten sowie tradierte Denk- und Verhaltensmuster der beteiligten Akteure erschweren Veränderungen hin zu einem Pfadwechsel [16][17].
Nicht zuletzt muss die Verzahnung der Infrastruktursysteme berücksichtigt werden. Störungen oder Beeinträchtigungen der Funktionalität des Infrastruktursystems können sowohl zu einer unzureichenden Versorgung mit essenziellen Ressourcen wie Energie und Nahrungsmitteln führen und wirken sich daher spürbar auf die Funktionalität anderer Infrastruktursysteme und damit auf alle gesellschaftlichen Lebensbereiche aus. Durch die digitale Integration und Vernetzung steigt zudem die Abhängigkeit von Informations- und Kommunikationstechnologien [18]. In Zeiten zunehmender Vernetzung auch zwischen den verschiedenen Infrastruktursystemen müssen mögliche Kaskadeneffekte immer stärker in den Blick genommen werden.
Einschätzung der Robustheit: Ergebnisse der Panelbefragung
Die Robustheit des (gegenwärtigen) Infrastruktursystems Verkehr und Mobilität hinsichtlich systemischer Risiken wurde im Rahmen der empirischen Erhebungen und der Panelbefragung bewertet. Die Gesamtbewertung des Verkehrs- und Mobilitätssystems über alle systemischen Risiken liegt bei einer mittleren Robustheit. Bei der Bewertung einzelner systemischer Risiken gibt es jedoch deutliche Unterschiede. Die Robustheit im Hinblick auf das systemische Risiko Pfadabhängigkeiten wird als am geringsten eingeschätzt. Die Robustheit gegenüber den systemischen Risiken Cyberkriminalität, gesellschaftliche Polarisierung sowie Versorgungsengpässe wird als eher gering eingeschätzt. Hingegen wird von den Expert/innen die Robustheit des Infrastruktursystems gegenüber dem systemischen Risiko Machtkonzentrationen, aber auch bezüglich Blackouts derzeit als eher hoch eingeschätzt.
- Voß, M.; Kahlenborn, W.; Porst, L.; Dorsch, L.; Nilson, E.; Rudolph, E.; Lohrengel, A.-F. (2021): Klimawirkungs- und Risikoanalyse 2021 für Deutschland. Teilbericht 4: Risiken und Anpassung im Cluster Infrastruktur. Umweltbundesamt, www.umweltbundesamt.de/
- Hänsel, S.; Herrmann, C.; Jochumsen, K.; Klose, M.; Nilson, E.; Norpoth, M.; Patzwahl, R.; Seiffert, R. (2020): Verkehr und Infrastruktur an Klimawandel und extreme Wetterereignisse anpassen. Ergebnisbericht des Themenfeldes 1 im BMVI-Expertennetzwerk für die Forschungsphase 2016-2019. Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur, www.bmdv-expertennetzwerk.bund.de/
- Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (2022): Die Lage der IT-Sicherheit in Deutschland 2022. Bonn, www.bsi.bund.de/
- DLR Verkehr (2024): Fünfte DLR-Befragung: Wie verändert Corona unsere Mobilität? | DLR Verkehr. DLR Verkehr, 19.1.2024, www.verkehrsforschung.dlr.de/
- International Transport Forum (ITF) OECD (2021): ITF Transport Outlook 2021. International Transport Forum (ITF) at the OECD.
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- Bundesnetzagentur (2024): Droht der Blackout? Über die Stromversorgung in Deutschland, www.bundesnetzagentur.de/ (7.3.2024)
- Tagesschau (2023): Huthi-Angriffe im Roten Meer: Eine Gefahr – nicht nur für den Welthandel. In: tagesschau.de (17.12.2023), www.tagesschau.de/
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- Agora Verkehrswende (2023): Mobilitätsarmut in Deutschland. Annäherung an ein unterschätztes Problem mit Lösungsperspektiven für mehr soziale Teilhabe und Klimaschutz. Agora Verkehrswende, www.agora-verkehrswende.de/
- Wissenschaftlicher Beirat BMDV (2023): Mobilitätswende in Stadt und Land – Klimaschutz und räumliche Gerechtigkeit als Transformationsziele des Verkehrs. Bundesministerium für Digitales und Verkehr, www.bmdv.bund.de/
- Hofmann, K. M.; Hanesch, S.; Levin-Keitel, M.; Krummheuer, F.; Serbser, W. H.; Teille, K.; Wust, C. (2021): Kapitel 1 Auswirkungen von Digitalisierung auf persönliche Mobilität und vernetzte Räume – Zusammenfassende Betrachtung der Unseens digitaler Mobilität.
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- Fischedick, M.; Grunwald; ArminCanzler, W.; Dieckhoff, C.; Hirsch Hador, G.; Kasten, P.; Requate, T.; Robinius, M.; Thrän, D.; Vetter, D.; Voß, J.-P. (2017): Pfadabhängigkeiten in der Energiewende. Das Beispiel Mobilität. Schriftenreihe Energiesysteme der Zukunft, München, epub.wupperinst.org/
- Kahlenborn, W.; Clausen, J.; Behrendt, S.; Göll, E. (Hg.) (2019): Auf dem Weg zu einer Green Economy. Wie die sozialökologische Transformation gelingen kann. Neue Ökologie Band 3, Bielefeld. DOI: 978-3-8376-4493-7
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Büro für Technikfolgen-Abschätzung beim Deutschen Bundestag (TAB) (2024): Foresight-Report 2024. Mit Fokus auf die Infrastruktursysteme Energie, Landwirtschaft und Ernährung sowie Verkehr und Mobilität (Autor/innen: Bledow, N.; Eickhoff, M.; Evers-Wölk, M.; Kahlisch, C.; Kehl, C.; Nolte, R.; Riousset, P.). Berlin. https://foresight.tab-beim-bundestag.de