Entwicklungsdynamiken ausgewählter systemischer Risiken und Gefährdungslagen
Systemische Risiken unterliegen einer teils starken Entwicklungsdynamik. Sowohl die Eintrittswahrscheinlichkeit als auch die konkrete Form der durch sie ausgelösten Gefährdungslagen für das Energiesystem können sich verändern. Derzeit steigt die Gefährdung für das Energiesystem vor allem durch immer häufiger auftretende Wetterextreme. Im Zuge der Digitalisierung steigt gleichzeitig die Gefahr von Cyberangriffen sowie Technikversagen und eingeschränkter Technikbeherrschbarkeit. Aber auch der Anstieg und die Verhärtung geopolitischer Konflikte führt zu einer Veränderung der Gefährdungslage für das Energiesystem.
Das systemische Risiko globale Erwärmung wirkt durch Verbrauchsverschiebungen, beispielsweise aufgrund von steigenden Raumkühlungsbedarfen, auf das Infrastruktursystem Energie [1][2]. Zudem sind Veränderungen von Windgeschwindigkeiten und Sonneneinstrahlung zu erwarten, die sich auf die Produktion von erneuerbaren Energien auswirken können. Prognosen über deren Richtung und Stärke sind jedoch mit hohen Unsicherheiten behaftet, sodass die Konsequenzen für Energieerzeugung nicht klar absehbar sind [2]. Darüber hinaus erhöht globale Erwärmung die Frequenz und damit die Eintrittswahrscheinlichkeit von Wetterextremen.
Die Gefährdung des Infrastruktursystems Energie durch Wetterextreme ist nicht neu, doch ihre Häufigkeit nimmt aufgrund des Klimawandels zu. Zudem treten extreme Wetterereignisse innerhalb Deutschlands vermehrt in Gebieten auf, in denen sie bisher nicht verzeichnet wurden [3]. Stürme mit herumfliegenden Trümmern und Ästen, Hagel und Starkregen können Leitungen sowie andere Anlagen wie PV-Module beschädigen [1][4][5]. Zudem kann es durch Wetterextreme zu Schwankungen in der Stromerzeugung durch Windkraft kommen: Bei Starkwinden müssen Windenergieanlagen abgeschaltet werden. Hochwasser, Schneelasten, Lawinen und Erdrutsche können in verschiedenen Bereichen des Energiesystems zu Unterbrechungen und Schäden bei Netzbestandteilen oder Anlagen führen [1][5]. Aber auch Hitze ist eine grundlegende Herausforderung für das Energiesystem. Komponenten im Elektrizitätsnetz benötigen für einen effizienten Betrieb spezifische Temperaturen. In Hitzeperioden kann es zu einer starken Erwärmung kommen, was beispielsweise zu Durchhang von Leitungen mit Kurzschlussrisiko, zu verringerter Lebensdauer von Transformatoren und bei mit Öl isolierten Transformationen zu einem Brandrisiko führen kann [6]. Bei hohen Umgebungstemperaturen ist zudem der Wirkungsgrad von PV-Anlagen reduziert, auch Staub kann deren Leistungsfähigkeit verringern [1][2]. Wassermangel in Dürrezeiten führt zu Problemen für (Speicher-)Wasserkraftwerke, für die Kühlung in thermischen Kraftwerken, bei der Reinigung von PV-Anlagen sowie bei der Produktion nachwachsender Biomasse [1][5][2].
Die zunehmende Digitalisierung im Infrastruktursystem Energie hat, z.B. durch modellbasierte und automatisierte Vorhersagen von Verbrauch und Erzeugung, das Potenzial, die Robustheit gegenüber Wetterextremen und anderen Risiken zu erhöhen. Gleichzeitig steigt jedoch die Gefahr von Cyberangriffen – es entsteht ein Resilienz-Trade-Off [1]. Obwohl Cyberkriminalität bisher nur einen geringen Anteil der Unterbrechungen im Energiesystem verursacht, nimmt das Gefährdungspotenzial zu, mit Folgen, die Datendiebstahl, Reputationsschäden für Unternehmen, Datenmanipulation und Unterbrechungen der Versorgungssicherheit umfassen können [7][1][8]. Beispielsweise war der Ransomwareangriff im Mai 2021 auf die Colonial Pipeline in den USA mit einer Lösegeldzahlung von 4,4 Mio. Dollar und Treibstoffengpässen verbunden [9]. Weitere Beispiele sind Ransomwareangriffe auf deutsche Windenergieanlagen im Frühjahr 2022, die keine Energieversorgungsengpässe bewirkten, aber die Wartung erschwerten. Die Kosten für Ermittlungen und Rechtsstreitigkeiten sind weitere Folgen. Der Energiesektor gilt als einer der Sektoren, in dem die Schadenssumme durch Cyberangriffe auf Unternehmen in Deutschland am meisten gewachsen ist [10].
Digitale Netzwerke im Energiesystem haben spezifische Anforderungen, darunter die Langlebigkeit von Hardwarekomponenten, die mit Software, deren Entwicklungsgeschwindigkeit deutlich höher ist, kompatibel sein sollen, ohne dass dabei neue Sicherheitslücken entstehen [1][5]. Im Falle von Angriffen können Systeme nicht ohne Weiteres abgeschaltet werden [1], und die Problembehebung wird ggf. durch stark eingeschränkte Kommunikation im Unternehmen infolge des Angriffs erschwert [7]. Die Konvergenz von Informationstechnologie (IT) und operativer Technologie (OT) im Infrastruktursystem Energie erhöht die Gefährdung: zusätzliche Schnittstellen von Systemen zur Anlagensteuerung mit kaufmännischen sowie Marktnetzwerken bieten neue Angriffsmöglichkeiten, beispielsweise können sich Angriffe über das Internet direkt auf technische Anlagen auswirken [7][5]. Ein Beispiel für einen kriegstaktischen Cyberangriff ist der Angriff der Gruppe Sandworm, die dem russischen Militärgeheimdienst GRU zugerechnet wird, in der Ukraine im Oktober 2022. Hier wurde zuerst das OT-System eines Umspannwerks attackiert, was zu Stromausfällen führte. Wenige Tage später wurde ein datenvernichtendes Schadprogramm namens CaddyWiper aktiviert, um Daten im IT-System des Energieversorgers zu löschen. Der Cyberangriff fand zeitgleich mit Raketenangriffen statt [11]. Durch ähnliche Angriffe wurden bereits 2015 und 2016 Stromausfälle in der Ukraine herbeigeführt. Im Frühjahr 2022 kam es zu einem ähnlichen Angriff, der abgewendet werden konnte [12].
Die hohe Systemkomplexität einer zunehmend digitalisierten Infrastruktur mit vielen digital steuerbaren Anlagen birgt auch durch technische Störfälle, die komplexe Abläufe aufweisen können, hohe Gefährdungspotenziale [5]. Neben Cyberkriminalität ist daher auch das systemische Risiko Technikversagen und eingeschränkte Technikbeherrschbarkeit relevant. Softwarefehler spielen dabei eine Rolle, wie der großflächige Blackout in Nordamerika im Jahr 2003 zeigt, von dem 50 Mio. Menschen betroffen waren. Der Vorfall wurde durch einen Softwarefehler im Kontrollsystem der Stromnetzbetreiber ausgelöst und resultierte aus einer Verkettung von Ereignissen. Auch der Faktor Mensch spielt eine wichtige Rolle: Bedienungsfehler, Fehlmanagement von Sicherheitsprotokollen oder Sabotage können erhebliche Schäden verursachen [5]. In Kontexten von schwieriger Arbeitsmarktlage und Fachkräftemangel steigt die Eintrittswahrscheinlichkeit für solche Risiken. Zudem kann die Verfügbarkeit von qualifiziertem Personal für die Bedienung und Wartung der zunehmend komplexen technischen Systeme in Zeiten akuter Krisen, wie während einer Pandemie, einer Wirtschaftskrise oder einem militärischen Konflikt, gering sein [13][1][5].
Abhängigkeiten von Energieträgern, Rohstoffen oder Technologien können effektiv als Druckmittel in geopolitischen Konflikten eingesetzt werden. Wie sich im Zuge des russischen Angriffskriegs klar gezeigt hat, ist die Abhängigkeit von fossilen Energieträgern in Deutschland immer noch relativ groß. Im Jahr 2020 kamen 55,2% der Erdgasimporte aus Russland [4]. Mittlerweile wurde diese einseitige Abhängigkeit reduziert. Deutschland importierte im Jahr 2023 33% weniger Gas als im Vorjahr und dies vornehmlich aus Norwegen, den Niederlanden und Belgien [14]. Zunehmend bestehen aber auch Abhängigkeiten von Exportländern kritischer Rohstoffe, die für erneuerbare Energien wie Solar- und Windenergie sowie für Batteriespeicher benötigt werden [15][16][4]. Zudem wachsen Abhängigkeiten von technischen Komponenten, die überwiegend importiert werden, sowie teilweise von Know-how oder Software, was zu Machtkonzentration führt [17]. Darüber hinaus gewinnt die zunehmende internationale Interkonnektivität von Stromnetzen durch Stromverbundnetze an Bedeutung. Obwohl Stromverbünde weniger als Öl oder Gas von asymmetrischen Import-Export-Beziehungen zwischen Staaten geprägt sind, entstehen durch die zunehmende Elektrifizierung und den wachsenden Anteil erneuerbarer Energien im Energiemix neue Vulnerabilitäten und Abhängigkeiten, und die geopolitische Bedeutung von Stromverbünden nimmt zu [18]. Neben Abhängigkeiten können kriegerische Konflikte auch direkt auf die Zerstörung von Energieinfrastrukturen abzielen und die Energieversorgung massiv gefährden. Auch von Staaten initiierte Cyberangriffe spielen eine zunehmende Rolle in geopolitischen Konflikten [10][5][19].
Neben geopolitischen Konflikten trägt auch die steigende Nachfrage nach kritischen Rohstoffen und Technologien, die für erneuerbare Energien benötigt werden, zu Schwierigkeiten bei bestehenden Lieferketten und damit Versorgungsengpässen bei. Die Wechselwirkung zwischen steigender Nachfrage, geografischer Konzentration von Rohstoffen, technologischem und industriellem Wettbewerb sowie geopolitischem Konfliktpotenzial schafft ein erhebliches Gefährdungspotenzial durch Lieferkettenengpässe [17]. Ein Gefährdungsszenario wäre beispielsweise eine weitere Ausweitung der Nahostkrise, die die Gefahr einer Reduktion der Ölproduktion mit sich bringen würde (vergleichbar mit dem Ölembargo 1973-1974), wodurch mit steigenden Ölpreisen und massiven Auswirkungen auf die Weltwirtschaft zu rechnen wäre [20][21].
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