Entwicklungsdynamiken ausgewählter systemischer Risiken und Gefährdungslagen
Systemische Risiken unterliegen einer teils starken Entwicklungsdynamik. Sowohl die Eintrittswahrscheinlichkeit als auch die konkrete Form der durch sie ausgelösten Gefährdungslagen für das Landwirtschafts- und Ernährungssystem können sich verändern. Derzeit steigt die Gefährdung für das Infrastruktursystem vor allem durch die globale Erwärmung und die im Zuge des Klimawandels zunehmenden Wetterextreme. Zusätzlich vollzieht sich der weltweite Verlust der Bodenbiodiversität schneller als bislang angenommen mit Folgen für die landwirtschaftliche Naturnutzung und die Ernährung. Aber auch der Anstieg und die Verhärtung geopolitischer Konflikte sowie steigende Marktkonzentrationen und zunehmende Unternehmensfusionen führen zu einer Veränderung der Gefährdungslage für das Landwirtschafts- und Ernährungssystem.
Zu den sich dynamisch entwickelnden Risikofaktoren für die Ernährungssicherheit zählt die globale Erwärmung. Eine Modellierung der NASA und des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung zeigt, dass die globalen Maiserträge in den nächsten 10 bis 20 Jahren erheblich zurückgehen und die Ernte bis zum Ende des Jahrhunderts in einigen Regionen um fast ein Viertel schrumpfen könnten. Dies hätte vor dem Hintergrund der hohen Bedeutung dieses weltweit wichtigsten Getreides ernste Folgen für die Nahrungsversorgung in vielen Regionen [1]. Im Rahmen des Projekts Impact2C wurden die Veränderungen durch eine globale Erwärmung um zwei Grad modelliert und in Bezug auf Landwirtschaft, Wasserhaushalt und Wälder in Europa analysiert, wobei der Fokus auf der Anfälligkeit von Nutzpflanzen lag. Den Abschätzungen zufolge zeigt Weizen in Deutschland eine mittlere bis hohe Vulnerabilität, er würde unter den neuen Bedingungen schlechter wachsen. Ähnliches gilt für Gerste. Die im Zuge des globalen Klimawandels steigenden Temperaturen begünstigen zudem zahlreiche Schädlinge, darunter invasive, die aus anderen Regionen stammen [2]. Eine im Fachmagazin Science veröffentlichte Studie zeigt, dass mit jedem Grad Temperaturanstieg die globalen schädlingsbedingten Ernteverluste bei Weizen, Reis und Mais um 10 bis 25 % steigen könnten [3].
Temperaturanstieg und veränderte Niederschlagsmuster führen zu zunehmender Trockenheit und wirken daher auch auf den Bereich Wasser. In der »Roadmap 2030 zur Zukunft der Wasserwirtschaft« wird betont, dass die zukünftigen Auswirkungen des Klimawandels, insbesondere die Zunahme von längeren Trockenperioden, welche mit temporär sinkenden Grundwasserständen und einem erhöhten Wasserbedarf einhergehen, zu einem schrittweisen Austrocknen von Gewässern führen können und sich auf die Verfügbarkeit natürlicher Wasserressourcen auswirken werden. Das Risiko einer übermäßigen Wassernutzung kann regional und saisonal deutlich zunehmen [4]. Wasserverschwendung verschärft die Problematik der Wasserknappheit, und gleichzeitig fördern niedrige Wasserpreise eine wenig nachhaltige Nutzung der Wasserressourcen, wie etwa die übermäßige Entnahme von Grundwasser und Aquiferen.[5] Fachleute gehen davon aus, dass die landwirtschaftliche Produktion und Verarbeitung aufgrund der zunehmenden Wasserknappheit auf behandelte Abwässer zurückgreifen müssen, was neue Risiken für die Lebensmittelsicherheit birgt [2]. Möglich ist, dass z. B. über die Bewässerung von Pflanzen verschiedene Arten von Krankheitserregern wie Bakterien und Parasiten in Nahrungsmittel gelangen und so ein steigendes Risiko für die Gesundheit der Bevölkerung in Deutschland darstellen. Neben der Wasserknappheit an Land verstärkt die globale Erwärmung auch die Erwärmung der Ozeane und damit verbunden Veränderungen in der biologischen Vielfalt der Meere. Fachleute gehen davon aus, dass z. B. das plötzliche und massenhafte Wachstum von toxinbildenden Algenarten negative Folgen für die menschliche Gesundheit haben kann, wenn diese über die Nahrungskette in Fisch- oder Meeresfrüchteprodukte gelangen [6]. Die Algen können durch ihr Gift zudem ganze Ernten von Meeresfrüchten ungenießbar machen und Kulturfischbestände bedrohen.
Die globale Erwärmung führt zu zunehmenden Wetterextremen und einer wachsenden Eintrittswahrscheinlichkeit gleichzeitig auftretender Extremwetterereignisse (z. B. Hitze und Dürre aufgrund der Korrelation zwischen Temperatur und Niederschlag). Diese Entwicklungen wirken sich auf mehrere Produktionsbereiche des Landwirtschafts- und Ernährungssystems aus und erhöhen dadurch dessen Gefährdungslage. Die EU-Kommission kommt zu der Einschätzung, dass die hieraus resultierenden Einbußen der Produktionskapazität zu Spannungen auf den Lebensmittelmärkten und in Bezug auf die Lebensmittelvorräte führen kann [7]. Die landwirtschaftliche Produktion in Deutschland wird im Sommer mit einer Zunahme trockener Tage und im Winter mit mehr Starkregen umgehen müssen. Hinzu kommt eine zunehmend auftretende Frühjahrstrockenheit, deren weitere Entwicklung allerdings nicht abgeschätzt werden kann [8].
Durch die Kombination aus Trockenheit und Hitze entstehen hohe Schäden an Pflanzen, die zu Ertragsminderungen bei Nahrungs- und Futtermitteln und dadurch zu steigenden Preisen führen. Für 2018 und 2019, die von Hitze- und Dürreextremen gekennzeichnet waren, wurde für Deutschland z. B. ein direkter Ertragsverlust bei Winterweizen im Wert von 992 Mio. Euro errechnet [9]. Gefährdet sind in Deutschland besonders Regionen mit geringer bodenbezogener Wasserspeicherkapazität, wie beispielsweise wichtige Getreideanbauregionen mit sandigen Böden. Die Kompensation fehlender Erntemengen kann nicht ohne Weiteres über neue Flächen in anderen Anbauregionen mit besserer Bodenqualität erfolgen, da die zur Verfügung stehende landwirtschaftliche Fläche aufgrund des zunehmenden Flächenverbrauchs für Verkehr, Wohnen und Industrie fast überall weiter abnimmt [10].
Die Ertragsverluste könnten sich durch die Zunahme von Starkregenereignissen weiter erhöhen. Starkregen in Kombination mit Windböen führt zu Umknicken von Pflanzen und damit zu Verlusten u.a. bei Getreide, Raps und Mais. Auch der Obstanbau ist betroffen, wenn Bäume beschädigt werden oder die Früchte herabfallen. In Folge der Niederschläge ist außerdem eine Verschlämmung der Böden möglich.
Die zunehmende Anzahl von Hitzetagen in Deutschland wird zudem Auswirkungen auf Nutztiere und ihre Leistung haben. Hitzestress bei Nutztieren kann das Wohlbefinden der Tiere und damit ihren Gesundheitszustand beinträchtigen und sie für Krankheiten anfälliger machen [11]. Auch die Leistungsfähigkeit von Milchkühen wird reduziert, was Menge und Qualität der produzierten Milch beeinträchtigen kann. Das Risiko betrifft vor allem Regionen mit großen Milchviehbeständen.
Der weltweite Biodiversitätsverlust schreitet schneller voran als bisher angenommen. Entsprechend ist hier mit einer steigenden Gefährdungslage für das Infrastruktursystem zu rechnen. Für Deutschland zeigt sich anhand der Roten Listen, dass 5 % der Regenwurmarten, 35 % der Laufkäferarten und 25 % der Großpilze als gefährdet gelten. Zudem gelten Pflanzenarten, die auf landwirtschaftliche Flächen spezialisiert sind, als besonders gefährdet. Der Verlust der Bodenbiodiversität führt zu Störungen von Nährstoffkreisläufen, was sich negativ auf die Bodenfruchtbarkeit auswirkt. Laut Bodenreport des Bundesamts für Naturschutz [12] könnten sich die Folgen des Rückgangs der Bodenfruchtbarkeit schon bald in stagnierenden Erträgen ausdrücken. Eine Studie zeigt, dass die Erträge in Böden mit einem stark vereinfachten Bodenleben um 13 % fielen und auch die Stickstoffaufnahme um 20 % sank [13]. Das Gefährdungslevel des Bodenlebens wird in Deutschland aktuell als moderat bis hoch eingeschätzt [12]. Die intensive landwirtschaftliche Nutzung des Bodens ist selbst einer der Hauptgründe für den Rückgang der Bodenorganismen. Neben dem Einsatz von Pestiziden und Düngemitteln beeinträchtigt auch das Pflügen die Vielfalt des Bodenlebens, u. a. von Pilzen, die ausgedehnte Netze im Boden bilden. Darüber hinaus verändert das Pflügen das Bodengefüge und erhöht die Bodenverdichtung. Dies erhöht die Anfälligkeit für Erosion und Staunässe, die wiederum die ausreichende Sauerstoffversorgung des Bodenlebens stören.
Der Anstieg geopolitischer Risiken führt zu einem erhöhten Risiko für Versorgungsengpässe. Um die heimischen Märkte in Krisensituationen zu schützen, werden weltweit von verschiedenen Ländern Ausfuhrbeschränkungen für Getreide erlassen, was zur Folge hat, dass internationale Versorgungsketten unterbrochen werden [14]. Die Beschränkung von Exporten führt dazu, dass die Preise beispielsweise für Getreide weltweit noch schneller steigen und zunehmend Preisschwankungen unterworfen sind [15]. Russland nutzte das Mittel der Ausfuhrbeschränkungen bereits häufiger, exportiert jedoch weiter in stark importabhängige Länder des globalen Südens, die häufig als russlandfreundlich eingestuft werden. Die Beschränkung der Getreideexporte sowie das Beenden der Schwarzmeer-Getreide-Initiative (Black Sea Grain Initiative) im Juli 2023 durch Russland verdeutlicht die Verwundbarkeit globaler Versorgungsketten und die potenzielle Nutzung von Lebensmitteln als Waffe.
Die möglichen Auswirkungen von Lieferengpässen auf das Infrastruktursystem Landwirtschaft und Ernährung lassen sich am Beispiel der Herstellung von Stickstoffdünger beschreiben [10]. Zu dessen Herstellung wird Gas als Energielieferant benötigt. Die drastischen Preissteigerungen für Gas führten an deutschen Produktionsstandorten zu einer Reduktion der Produktion und teilweise sogar zu Produktionsstopps. Die Preise für Düngemittel stiegen daraufhin kurzzeitig stark an, was wiederum zur Erhöhung der Lebensmittelpreise führte. Stark schwankende Preise stellen Landwirte vor Produktionsprobleme und können besonders kleinere Betriebe in ihrer Existenz bedrohen. Zu den Rohstoffen, die zukünftig für das Infrastruktursystem kritisch werden dürften, zählen Phosphat und Kalium. Phosphat ist essenziell für die Landwirtschaft, zugleich ist es ein geologisch knapper Rohstoff, der nur aus wenigen Ländern bezogen werden kann. Fünf Länder verfügen über 90 % der weltweiten Phosphatreserven [16]. Aufgrund der essenziellen Rolle von Phosphor in der landwirtschaftlichen Produktion werden diese Nationen langfristig erheblichen Einfluss auf die globale Nahrungsmittelproduktion ausüben.
Die Auswirkungen zunehmender Unternehmensfusionen sowie steigender Marktkonzentrationen in der Landwirtschaft bergen ebenfalls ein erhöhtes Risikopotenzial für das Infrastruktursystem. Neben den klassischen Akteuren und global agierenden Unternehmen der Landmaschinen-, Saatgut- und Chemieindustrie treten zunehmend globale Akteure mit Digitalkompetenz und Finanzkraft auf [17]. Durch die Bereitstellung von Maschinen, Beratungs- und Serviceleistungen generieren Unternehmen große und detaillierte Datenbanken, zu denen Landwirt/innen häufig keinen Zugang haben. Die systematische Nutzung solcher Daten schafft nicht nur Wettbewerbsvorteile, sondern eröffnet auch neue Wertschöpfungspotenziale und Kooperationsmöglichkeiten im gesamten Ernährungssystem [17]. Gegenwärtig wird noch kritisch diskutiert, ob und wie dies die Bildung von Oligopolen oder gar Monopolen beschleunigt und damit neue Abhängigkeitsverhältnisse schafft [18].
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- Dietrich, J.; Hammerl, J.-A.; Johne, A.; Kappenstein, O.; Loeffler, C.; N.ckler, K.; Rosner, B.; Spielmeyer, A.; Szabo, I.; Richter, M. H. (2023): Auswirkungen des Klimawandels auf lebensmittelassoziierte Infektionen und Intoxikationen. In: Journal of Health Monitoring (8), S. 85–101, DOI: 10.25646/11393
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