Entwicklungsdynamiken ausgewählter systemischer Risiken und Gefährdungslagen
Systemische Risiken unterliegen einer teils starken Entwicklungsdynamik. Sowohl die Eintrittswahrscheinlichkeit als auch die konkrete Form der durch sie ausgelösten Gefährdungslagen für das Verkehrs- und Mobilitätssystem können sich verändern. Derzeit steigt die Gefährdung für das Infrastruktursystem vor allem durch die globale Erwärmung und die im Zuge des Klimawandels zunehmenden Wetterextreme. Auch für die Gefährdungslage durch Cyberkriminalität sowie Technikversagen und eingeschränkte Technikbeherrschbarkeit zeichnet sich im Zuge des digitalen Wandels ein deutlicher Anstieg ab. Aber auch der Anstieg und die Verhärtung geopolitischer Konflikte einschließlich der eng hiermit verknüpften Versorgungsengpässe führen zu einer Veränderung der Gefährdungslage für das Verkehrs- und Mobilitätssystem.
Infolge der globalen Erwärmung und gemäß Klimaprojektionen wird auch in Deutschland die Häufigkeit von Wetterextremen, wie beispielsweise Überschwemmungen, Hitzewellen und langandauernde Dürren oder Niedrigwassersituationen, die sich auf das Infrastruktursystem Verkehr und Mobilität auswirken, deutlich zunehmen [1]. Besonders schwerwiegend sind derartige Ereignisse, wenn sie einen langanhaltenden Charakter haben und mehrere Verkehrsträger gleichzeitig betreffen. Bei Starkregen und den damit einhergehenden Überflutungen, Hangrutschungen und Unterspülungen werden die meisten Schäden an Straßen und Schienenwegen hervorgerufen. Straßen können großflächig überflutet werden, wodurch der Straßenverkehr zum Erliegen kommt. Gleise können unterspült werden, wodurch es zu zeitlichen Verzögerungen und Sperrungen im Schienenverkehr kommen kann. Bei Hochwasser treten Gewässer über die Ufer, was nicht nur den Binnenschiffsverkehr beeinträchtigt, sondern darüber hinaus auch zu zusätzlichen Schäden an der angrenzenden Infrastruktur führt, sodass beispielsweise auch ufernahe Straßen und Schienen betroffen sind [2]. Hitze kann auf älteren Fahrbahnen zu Blow-ups führen, wenn Betonplatten aufbrechen oder der Asphalt schmilzt, und in der Folge Streckensperrungen verursachen [3].
Zunehmende Dürreperioden verursachen, anders als Starkregen oder Stürme, keine direkten Schäden an der Infrastruktur, sie können jedoch den laufenden Betrieb und langfristig sogar die Funktionsfähigkeit des gesamten Systems beeinträchtigen. So stellen zunehmende Niedrigwassersituationen vor allem für die Binnenschifffahrt erhebliche Einschränkungen dar, da Schiffe mit großem Tiefgang nicht mehr voll beladen oder gar nicht mehr fahren können. Dies führt insgesamt zu einer geringeren Gütermenge pro Fahrt und beeinträchtigt die wirtschaftliche Effizienz der Beförderung. 2022 transportierte die deutsche Binnenschifffahrt 182 Mio. t Güter, ein Rückgang um 6,4 % im Vergleich zu 2021 und das niedrigste Volumen seit 1990. Gründe sind neben Produktionsrückgängen das Niedrigwasser im August 2022 [4]. Eine ausführliche Risikoanalyse befasst sich mit den Auswirkungen eines mehrjährigen Dürreszenarios auf die Wasserstraßen in Deutschland und weist auf die steigende Gefährdung durch verändertes Wetter hin [5].
Bereits heute beeinflusst die globale Erwärmung auch den Luftverkehr. Eine häufigere und schnellere Bildung von Wirbelstürmen und Gewitterfronten ist auch in bisher weniger betroffenen Gebieten wie dem Mittelmeerraum zu erwarten. Kumuluswolken werden höher und schwerer einschätzbar, was das Risiko für Flugzeuge erhöht, da größere Hagelbrocken in Turbinen gelangen können. Zudem haben laut einer Studie der Universität Reading Luftturbulenzen im Flugverkehr in den vergangenen 40 Jahren zugenommen und werden sich gemäß den Prognosen infolge des Klimawandels auch zukünftig verstärken [6].
Stürme stellen das Verkehrssystem vor große Herausforderungen und haben in der Vergangenheit, wie beim Orkan Friederike im Jahr 2018, besonders im Schienenverkehr erhebliche Schäden verursacht. Nach Angaben des Gesamtverbands der deutschen Versicherer beliefen sich die Schadkosten auf 500 Mio. Euro [7]. Auch Orkan Sabine führte 2020 dazu, dass der Bahnverkehr kurzfristig komplett eingestellt wurde und Starts und Landungen beim Flugverkehr beeinträchtigt waren [8]. Die Gefahr bei Stürmen geht vor allem von der Vegetation entlang von Straßen und Schienen aus. Umgestürzte Bäume können den Straßenverkehr behindern oder den Bahnverkehr unterbrechen, indem sie Gleise blockieren oder Oberleitungen beschädigen.
Die fortschreitende Digitalisierung im Verkehrs- und Mobilitätssystems kann die Robustheit, z. B. durch datenbasierte Frühwarnsysteme oder vorausschauende Verkehrssteuerung gegenüber Wetterextremen und anderen Risiken, erhöhen. Gleichzeitig steigt für das dadurch komplexer werdende Infrastruktursystem das Risiko professioneller Angriffe durch Cyberkriminalität. Nach Angaben der EU-Agentur für Cybersicherheit (ENISA) nehmen insgesamt Angriffe sowohl auf Fahrzeuge und Produktionsprozesse als auch auf Verkehrsinfrastrukturen, wie beispielsweise Ampelanlagen, zu und treffen vermehrt auch angrenzende Infrastruktursysteme, wie beispielsweise das Energiesystem [9]. Aus einer Studie des Bitkom e.V. geht hervor, dass neben den Branchen Chemie und Pharma sowie Maschinenbau in der Automobilbranche die dritthöchste durchschnittliche Schadenssumme je Unternehmen durch Cyberkriminalität entstanden ist. Die Angriffe können beispielsweise durch Ransomware oder als DDoS-Attacken erfolgen, welche Server durch eine Überlastung mit Anfragen zum Zusammenbruch bringen, oder durch Spionage, Datendiebstahl sowie Schädigung von Informations- und Produktionssystemen oder von Betriebsabläufen [10][9]. Die Absicherung von Produktionsanlagen und -prozessen im Infrastruktursystem Verkehr und Mobilität stellt gegenwärtig eine besondere Herausforderung dar. So werden Automatisierung und Vernetzung als Angriffsfläche für Cyberkriminalität unter anderem in der Produktion von Fahrzeugteilen und Komponenten deutlich: In einer hochtechnisierten Fertigungsanlage sind sämtliche Bereiche einer Produktionsstraße, von Sensoren bis hin zu Fertigungsrobotern, miteinander vernetzt. Diese Vernetzung erhöht die Möglichkeiten für Cyberangriffe und bietet nicht nur ein hohes Gefährdungspotenzial für das gesamte Unternehmensnetzwerk, sondern auch für die an der Produktion beteiligten Dienstleister, die über weitere Schnittstellen mit den Fertigungsanlagen verknüpft sind [11]. So wurde beispielsweise im Jahr 2020 ein Automobilzulieferer, der Turbolader unter anderem für Audi, BMW, VW und Ferrari produziert, Opfer eines Ransomwareangriffs. Sowohl Standorte in Deutschland als auch im europäischen Ausland waren von dem Cyberangriff betroffen [12].
Neben den Produktionsanlagen stellen auch Fahrzeuge sowie die dazugehörigen digitalen Prozesse und Plattformen eine immer größere Angriffsfläche dar. Durch die zunehmende Integration von Software und komplexen Schnittstellen zwischen Mobilfunk, Software und Hardware kommt es immer häufiger dazu, das Fahrzeuge gehackt oder Kunden der Automobilindustrie Opfer von Cyberkriminalität werden [13]. Auch die digitalen Systeme im öffentlichen Verkehr, einschließlich Fahrkarten- und Verkehrskoordinationssysteme, sind zunehmend anfällig für Cyberangriffe [14]. Ein Beispiel dafür in Deutschland ist die Cyberattacke auf das Verkehrsunternehmen Üstra, die zu erheblichen Einschränkungen führte: Elektronische Anzeigetafeln fielen tagelang aus und zudem funktionierte weder der elektronische Ticketverkauf, noch konnte das Unternehmen eigene Telefon- und E-Mail-Services nutzen [15]. Auch für die Schifffahrt und die Hafenwirtschaft in Deutschland stellen Cyberattacken und Hackerangriffe eine zunehmende Bedrohung dar [16]. Moderne Navigationssysteme auf Schiffen integrieren verschiedene Technologien wie satellitenbasierte Navigation, elektronische Seekarten und automatische Identifikationssysteme zunehmend in ein ganzheitliches System, das mit anderen Schnittstellen, insbesondere Hafenanlagen und Schiffsbrücken, verbunden ist. Ein Cyberangriff auf zentrale technische Steuerungsanlagen könnte die Authentizität, Vertraulichkeit und Integrität der Daten beeinträchtigen und zu Datenlecks sowie Manipulationen führen, im schlimmsten Fall sogar zu einem vollständigen Systemausfall [17].
Die zunehmende Komplexität eines digitalisierten, vernetzten und automatisierten Verkehrs- und Mobilitätssystems ist auch mit Blick auf das systemische Risiko Technikversagen und eingeschränkte Technikbeherrschbarkeit relevant. Für den reibungslosen Betrieb der Verkehrsinfrastruktur werden verstärkt elektrische Systeme zur effizienten Steuerung genutzt. Diese sind auf Informations- und Kommunikationstechnologien angewiesen, um wesentliche Informationen für die Streckenführung und den Betrieb zu erhalten [18]. Störungen im Stromnetz beeinträchtigen die Funktionalität von Signalen, Weichenstellungen und Leitsystemen für Züge sowie computergesteuerte Autobahnsysteme. Funktionale Verknüpfungen zwischen der physischen Infrastruktur und der digitalen Steuerung des Verkehrs sind zwar vorteilhaft, die eingeschränkte Beherrschbarkeit der verschiedenen integrierten Systeme und Technologien bei gleichzeitig fehlendem Fachpersonal kann jedoch zunehmend Schäden verursachen [19]. Ein weiteres Beispiel ist die steigende Softwarekomplexität in Fahrzeugen, insbesondere im Zusammenhang mit der Automatisierung von Fahrfunktionen, die vermehrt zu softwarebedingten Rückrufen von Fahrzeugen führte. Die Sicherstellung hoher Softwarequalität ist jedoch maßgeblich für die Sicherheit des reibungslosen Fahrzeugbetriebs [20].
Vor dem Hintergrund zunehmender internationaler Konflikte steigt auch das Gefährdungspotenzial für das Verkehrs- und Mobilitätssystem, vor allem sind Transportwege verstärkt beeinträchtigt. Das systemische Risiko geopolitische Konflikte ist daher eng mit dem systemischen Risiko Versorgungsengpässe bei Energie und kritischen Rohstoffen verknüpft. So war der Automobilsektor während des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine mit kurzfristigen Lieferengpässen bei Kabeln und Leitungen aufgrund von Produktionsstillständen in der Ukraine konfrontiert. Zudem führten Handelssanktionen der EU gegen Russland zu Rohstoffengpässen, insbesondere bei Stahlprodukten aus Russland, der Ukraine und Weißrussland. Die steigenden Energiepreise erhöhten die Lieferkosten für energieintensive Produkte wie Stahl, Aluminium und Glas, was wiederum die Gesamtproduktionskosten für Fahrzeuge auf dem deutschen Markt ansteigen ließ [21]. Ein weiteres Beispiel ist die gegenwärtige Verschärfung des Nahostkonflikts, welche weitreichende Auswirkungen auf die internationale Schifffahrt und den Transport von Gütern hat: Seit Mitte November 2023 greifen jemenitische Huthi-Rebellen Handelsschiffe im Roten Meer an. Die Folge sind verzögerte Lieferungen wichtiger Vorprodukte für die deutsche Fahrzeugindustrie und dadurch Produktionsbeeinträchtigungen. Die Verzögerungen betreffen nicht nur längere Lieferwege und -zeiten, sondern bewirken auch längere Containerumschlagszeiten in den Häfen, da Fracht- und Umschlagskapazitäten nicht ausreichen, um Zeitpläne aufrechtzuerhalten [22][23].
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