Gefährdungslagen im Zuge der Transformation
Ein wesentlicher Bestandteil der Transformation zur Klimaneutralität in Deutschland bis 2045 ist der Umbau des Energiesystems: Die Unabhängigkeit von fossilen Energien soll durch einen massiven Ausbau erneuerbarer Energien, den dafür erforderlichen Netzausbau, Elektrifizierung und Sektorenkopplung sowie durch eine sparsame und effiziente Nutzung von Energie erreicht werden. Diese Transformationsprozesse bieten große Chancen, zugleich bergen sie verschiedene Risiken. Nachfolgend werden systemische Risiken beleuchtet, die sich vor allem auf das Erreichen der Transformationsziele auswirken. Zudem werden die Auswirkungen systemischer Risiken auf die Versorgungssicherheit im transformierten Energiesystem erläutert.
Die Gefährdungspotenziale des systemischen Risikos Pfadabhängigkeiten für das Erreichen der Transformationsziele resultieren aus der langfristig ausgerichteten Energieinfrastruktur und teilweise auch aus dem Regulierungsrahmen im Infrastruktursystem Energie [1]. In der Wärmeversorgung sind, neben der hemmenden Wirkung bestehender Gasnetze anstelle von Wärmenetzen, auch die hohe Anzahl unsanierter Gebäude und Eigentumsstrukturen eine zusätzliche Herausforderung, da sie durch hohe Pfadwechselkosten Schwierigkeiten verursachen [2]. Auf dem Weg zur Dekarbonisierung besteht zudem das Risiko eines Mid-Transition-Lock-Ins durch Brückentechnologien wie Erdgas, deren Nutzung zunächst intensiviert wird [3][4]. Die intensivere Nutzung (neuer) Bezugsquellen für fossile Energien wird durch aktuelle geopolitische Konfliktlagen weiter forciert. Hierdurch sowie durch Entscheidungen über den Ausbau spezifischer Infrastrukturen für zukünftige Energieträger, z.B. Wasserstoff, können neue Pfadabhängigkeiten entstehen. Diese umfassen einerseits die hohe Lebensdauer der physischen Infrastruktur, die hohe Kosten im Fall eines Pfadwechsels nach sich zieht, und andererseits wirtschaftliche Strukturen, einschließlich Importabhängigkeiten [5][6]. Einige der heutigen Festlegungen können dazu führen, dass bei zukünftigen Entwicklungen neue Vulnerabilitäten und Risiken entstehen, und möglicherweise das Erreichen der Transformationsziele gefährden.
Gesellschaftliche Polarisierung steht im Zusammenhang mit Widerstand gegen Veränderungen im Energiesystem, vor allem dem Ausbau erneuerbarer Energien sowie von Übertragungsleitungen [1]. Die Flächennutzungskonkurrenz zwischen dem Ausbau von erneuerbaren Energien und z.B. Natur- und Landschaftsschutz sowie Landwirtschaft ist ein damit verbundener Faktor [7][8], der im gesellschaftlichen Diskurs eine bedeutende Rolle einnimmt. Für die Akzeptanz des Ausbaus von erneuerbaren Anlagen spielt auch eine Rolle, ob Anlagendichte sowie Energieverbrauch als regional fair verteilt wahrgenommen werden. Arbeitsmarktveränderungen, die im Zuge der Umstellung von fossilen auf erneuerbare Energien stattfinden, können sich ebenfalls negativ auf die Akzeptanz der Umstellung auswirken [9]. Im Bereich des Energieverbrauchs tragen Faktoren wie hohe Energiepreise und Energiearmut zur Polarisierung bei [10]. Energiearmut ist ein wichtiger Aspekt der Lebenshaltungskostenkrise, die im Global Risk Report 2024 [11] auf Rang 4 der akutesten Krisen steht (vgl. auch Einschätzungen der Allianz [12]). Neuere Entwicklungen könnten entsprechende Polarisierungen verschärfen; beispielsweise macht es die anbieterseitige Fernsteuerung von Thermostaten grundsätzlich möglich, dass in Phasen geringer Energieverfügbarkeit der Energieverbrauch selektiv bei manchen Verbrauchern – je nach Tarif – verringert wird. Dies könnte insbesondere Gruppen, die bereits von Energiearmut betroffen sind, zusätzlich belasten und zu einer Mehrfachbelastung vulnerabler Gruppen führen [13]. Solche Entwicklungen könnten sich einerseits auf das Erreichen der Transformationsziele auswirken und andererseits auch die gesellschaftliche Polarisierung weiter vorantreiben.
Auch die sich dynamisch entwickelnden systemischen Risiken und deren Gefährdungslagen für das Infrastruktursystem verändern sich im Zuge der Transformation. Der notwendige Netzausbau im Rahmen der Energiewende kann beispielweise die Wahrscheinlichkeit von Leitungsschäden durch Wetterextreme erhöhen [1][8]. Regionale Wasserknappheit kann für die Produktion von Wasserstoff, der im Energiesystem der Zukunft eine größere Rolle spielen soll und aus Wasser hergestellt wird, problematisch sein. Auch andere erneuerbare Energien sind auf Wasser angewiesen [4][8] und hängen von sich möglicherweise verändernden Faktoren wie Windgeschwindigkeiten und Sonneneinstrahlung ab [8]. Insgesamt weist ein auf erneuerbaren Energien basierendes Energiesystem größere Abhängigkeiten von Wetter und Klima auf und ist damit vulnerabler gegenüber Veränderungen im Zuge der globalen Erwärmung.
Die Transformation des Energiesystems erfordert eine umfangreiche Digitalisierung. Ein zunehmend dezentrales Energiesystem, das auf vielen eher kleinen Anlangen mit teilweise stark volatiler Erzeugung basiert, erhöht die Komplexität sowie den Kommunikationsbedarf zwischen den technischen Systemkomponenten [14][7][15]). Auch zwischen Systemakteuren, z.B. Anbieter/innen und Verbraucher/innen, gibt es in einem dezentralen, auf erneuerbaren Energien basierendem Energiesystem gesteigerte Kommunikationsbedarfe und zunehmende Handelsaktivitäten. Gleichzeitig vergrößert sich der Kreis der Akteure, die sowohl als Anbieter/innen als auch als Verbraucher/innen aktiv sind [16][4][15]. Dadurch vergrößert sich die Angriffsfläche für Cyberangriffe, auch weil neue Markteilnehmer/innen möglicherweise weniger Fachkenntnis und technische Möglichkeiten haben, aber auf vernetzte Anlagen zugreifen können. KI-Anwendungen bieten großes Potenzial bei der Optimierung im Stromnetz, bringen aber auch Risiken mit sich, wie Disruption der Stromversorgung durch Datenmanipulation oder Privatsphärenverletzungen durch Datenmissbrauch, die Konsequenzen bis hin zu Einbrüchen oder persönlichen Konflikten haben können, weil sich über Verbrauchsdaten viel über Verhalten ablesen lässt [17][13]. Ein Beispiel für eine Cyberattacke im digitalisierten Energiesystem ist ein Angriffsszenario, in dem ein Computerwurm sich durch die Smart-Metering-Infrastruktur ausbreitet und eine hohe Zahl von Smart Metern zerstört. Ein solcher Angriff könnte zu Schäden an vielen tausend Stellen gleichzeitig führen, deren Behebung Zeit kosten würden [18]. Erzeugungsanlagen, deren Wichtigkeit zunimmt, wie Offshorewindparks, haben teilweise besondere Vulnerabilitäten gegenüber Cyberangriffen, auch bedingt durch Regulierungslücken [19]. Durch einen schwerwiegenden Cyberkriminalitätsvorfall wäre zudem zu erwarten, dass die Akzeptanz für digitale Elemente der Transformation des Energiesystems zurückgeht [4].
Erhöhte Komplexität und Kommunikationsbedarfe zwischen den technischen Komponenten führen darüber hinaus zu technischer Verwundbarkeit; beispielsweise kann das gleichzeitige An- oder Abschalten von vielen kleinen Erzeugungs- und Verbrauchsanlagen (ob beabsichtigt oder durch Fehlfunktionen) die Stromversorgung destabilisieren [7][1]. Die volatil erzeugenden Anlagen, die an die Stelle von Großkraftwerken treten, müssen Systemdienstleistungen der Frequenz- und Spannungshaltung übernehmen, die technisch komplex sind und aus denen sich neue Risiken von Technikversagen und eingeschränkter Technikbeherrschbarkeit ergeben können.
Im Zuge der Energiewende wandelt sich das Gefährdungspotenzial von geopolitischen Konflikten: Während manche Abhängigkeiten reduziert werden, entstehen gleichzeitig neue [4][20]. Mit der Transformation des Energiesystems hin zu einem dekarbonisierten System ist eine Verringerung der Abhängigkeit von Exportländern fossiler Primärenergieträger zu erwarten. Gleichzeitig verschieben sich geopolitische Abhängigkeiten hin zu Ländern mit kritischen Rohstoffen oder Technologiekomponenten, die für erneuerbare Energien oder die Energieumwandlung benötigt werden, z.B. Elektrolyseure [21][4][20]. Aber auch Abhängigkeiten von Ländern mit Alternativen zu fossilen Brennstoffen wie grünem Wasserstoff und mit hohem Potenzial für erneuerbare Energien können sich vergrößern [20][5]. Das Risiko von Versorgungsengpässen wird durch die weltweit zunehmende Nachfrage nach erneuerbaren Energien verschärft. Es ist unklar, ob in den neuen Abhängigkeiten mehr oder weniger Konfliktpotenzial liegt. Es gibt Ergebnisse, die darauf hindeuten, dass Handelskonflikte im Zusammenhang mit erneuerbare Energietechnologien bisher häufiger auftreten als mit Bezug auf konventionelle Energieträger [22].
Im Kontext der Transformation muss auch die Verzahnung der Infrastruktursysteme berücksichtigt werden. Die Sektorenkopplung führt zu einem deutlich größeren Anteil an Strom im nachgefragten Energiemix. Während sich dadurch die Robustheit verbessern kann, könnten sich gleichzeitig potenzielle Schäden durch Stromausfälle ausweiten, da beispielsweise die Wärmeversorgung und andere Sektoren, darunter der Verkehrssektor, stärker von Strom abhängen. Die Abhängigkeit aller anderen Infrastrukturen vom Infrastruktursystem Energie ist generell sehr ausgeprägt, wie diverse Studien zu den Auswirkungen von Blackouts illustrieren [1][23]. Gleichzeitig ist auch das Energiesystem abhängig von anderen Infrastrukturen bzw. steht in enger Interaktion mit diesen, was durch die Transformation weiter verstärkt wird. Besonders deutlich ist das im Fall IKT: Mit der zunehmenden Digitalisierung im Energiesystem erhöht sich die Vulnerabilität bei IKT-Ausfällen. Aber auch andere Infrastruktursysteme wie Verkehr und Mobilität wirken sich auf das Energiesystem aus; so können sich Transportprobleme auf Wasserstraßen bei niedrigem Wasserstand auf die Verfügbarkeit von Kohle oder Mineralöl auswirken [8]. In Zeiten zunehmender Vernetzung auch zwischen den verschiedenen Infrastruktursystemen müssen solche Kaskadeneffekte immer stärker in den Blick genommen werden.
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