Marktabhängigkeiten und unsichere Lieferketten
Internationalisierung, Marktkonzentrationen sind Langzeittendenzen, die das Infrastruktursystem stark definieren. In den letzten Jahren haben vor allem geoökonomische Konflikte und stark fluktuierende Preise für Energie und Futtermittel die Preise für Lebensmittel in die Höhe getrieben. Die zunehmende Knappheit kritischer Rohstoffe spitzt diese Trends zu.
Der Handel mit Vorleistungen sowie Lebensmitteln ist seit vielen Jahren von einer starken Internationalisierung geprägt, was sich am Aufstieg multinationaler Lebensmittelkonzerne ablesen lässt [1]. So ist der internationale Handel mit Agrarprodukten in den letzten 60 Jahren um mehr als das 10-Fache gewachsen [2]. Mit der Internationalisierung geht eine Zunahme von Marktkonzentrationen einher, ein Trend, der von der Mehrheit der befragten Expert/innen als ein wichtiger Vulnerabilitätsfaktor gesehen wird (Datengrafik). Insbesondere die Herstellung von Vorleistungen, wie beispielsweise Agrartechnik, Saatgut [2] oder Pflanzenschutzmittel [3], wird von wenigen Akteuren dominiert. Bei Phosphor und Kali, die neben Stickstoff zu den wichtigsten Nährstoffen für das Pflanzenwachstum gehören und als Düngemittel essenziell sind, ist die EU zu knapp 70 und bei Kali gar zu 85 % von Importen abhängig [4]. Wenige Länder dominieren hier den weltweiten Markt. Der Trend zur Marktkonzentration zeigt sich auch in der Verarbeitung, im Handel und in der Verteilung/Logistik [5]. So wird der Lebensmittelhandel in Deutschland von vier großen Unternehmen (mit 74,2 % Umsatzanteil bei Lebensmitteln; [6]) dominiert und die Zahl der Lieferanten von Supermärkten hat sich in den letzten 20 Jahren deutlich verkleinert [7].
Im Ergebnis ist die Versorgung Deutschlands mit einzelnen Vorleistungen und Lebensmittelprodukten von wenigen Ländern oder einer geringen Anzahl von Unternehmen abhängig. Je höher die entsprechenden Abhängigkeiten Deutschlands sind, desto umfangreicher können die Auswirkungen geoökonomischer Konflikte sein. Bricht ein Konflikt zwischen zwei Ländern aus, kann dies sich schnell auf internationale Lieferketten auswirken und zu plötzlichen Engpässen führen. Die zunehmenden geoökonomischen Konflikte und Handelsrestriktionen wurden von den befragten Expert/innen als einer der Faktoren eingeschätzt, der die Verletzlichkeit des Infrastruktursystems besonders stark erhöht (Datengrafik). Wie die jüngsten internationalen Spannungen bereits gezeigt haben, können steigende Preise für Energie und Dünger sowie für Futtermittel die Folge sein, was wiederum die Preise für landwirtschaftliche Erzeugnisse in die Höhe treibt [8]. Weitere Trends wirken sich ebenfalls auf die Preise von Lebensmitteln aus, wie zum Beispiel der Anstieg des weltweiten Kalorienverbrauchs, der wachsende Proteinkonsum [9] sowie die zunehmende Knappheit kritischer Rohstoffe, wozu Phosphor gehört [10]. Der Preis für Phosphatgestein, die wichtigste natürliche Phosphorquelle, ist von 2020 bis 2022 von unter 100 US-Dollar auf über 300 US-Dollar angestiegen (Datengrafik).
Von Lieferengpässen und -verzögerungen war im deutschen Einzelhandel im Jahr 2023 der Lebensmitteleinzelhandel am stärksten betroffen. Das ist insbesondere auf den Angriffskrieg gegen die Ukraine, aber auch auf Fabrikschließungen infolge der COVID-19-Pandemie, reduzierte Frachtkapazitäten und Knappheiten von Rohstoffen sowie Vorleistungen zurückzuführen [11]. Unter anderem, um den Risiken von Markkonzentrationen und der hohen Abhängigkeit von globalen Lieferketten entgegenzuwirken, entstehen in Europa regionale Ernährungsräte und Einrichtungen wie Food Hubs, die der Beschaffung und Vermarktung regional erzeugter Lebensmittel dienen. Auch Konzepte für eine alternative Stickstoffdüngerproduktion könnten zur Stärkung der Resilienz des Infrastruktursystems beitragen.
Food Hubs sind »Einrichtungen, die sich unter anderem um die Beschaffung und Vermarktung regional erzeugter Lebensmittel kümmer[n] und zugleich den Zugang zu gesunden Lebensmitteln in der Bevölkerung ermöglich[en]« sollen [12]. Food Hubs werden auch im Rahmen von Ernährungsnetzwerken (Food Policy Networks [13]) oder Ernährungsräten (Food Policy Councils) entwickelt und haben die Schaffung regionaler Lebensmittelkreisläufe zum Ziel. Entsprechende Initiativen sind seit mehreren Jahrzehnten in Nordamerika vorzufinden und in jüngster Zeit auch in Deutschland (z.B. Ernährungsrat Brandenburg: [14]). Die konkreten Ziele können je nach Initiative variieren. In der Regel wird angestrebt, die Ernährungssysteme an lokale Gegebenheiten anzupassen, um regionale Wertschöpfungspotenziale unter Nutzung neuer (urban-ruraler) Kooperations- und Governancemodelle (z.B. Zusammenarbeit mit der lokalen Politik) auszubauen. Indem sich Landwirten neue regionale Märkte eröffnen (beispielsweise über die Möglichkeit der Direktvermarktung ihrer Produkte), soll Marktkonzentrationen durch multinationale Lebensmittelkonzerne entgegengewirkt werden und so die Resilienz des Infrastruktursystems gestärkt werden. Bisher sind solche Initiativen in Europa aber noch in einem noch frühen Entwicklungsstadium [15].
Um hohe Erträge in guter Qualität zu erhalten, werden in der traditionellen Landwirtschaft mineralische Stickstoffdünger eingesetzt. Der Verbrauch von Stickstoff in der deutschen Landwirtschaft war in den letzten Jahren zwar rückläufig, betrug im Wirtschaftsjahr 2022/23 aber immer noch rund eine Mio. t. Industriell hergestelltes Ammoniak ist der Grundstoff für die Produktion von mineralischen Stickstoffdüngemitteln. Die Ammoniakherstellung ist jedoch sehr energieintensiv, was sich negativ auf die Preise und das Klima auswirkt. Um Ammoniak nachhaltiger zu produzieren, könnte klimaneutral hergestellter Wasserstoff als Rohstoff genutzt werden und die Anlagen könnten mit erneuerbarem Strom beheizt werden. Dafür braucht es allerdings eine umfangreiche Anpassung aktueller Anlagen und Verfahren – wie die erste kommerzielle Anlage zur Produktion von grünem Ammoniak in Puertollano (Spanien) zeigt – bzw. gänzlich neue Konzepte wie flexible Ammoniakreaktoren [16]. Perspektivisch könnte die aktuell energieintensive Herstellung von Ammoniak auch durch alternative Verfahren ersetzt werden. Daran wird intensiv geforscht. Ende 2022 wurden zwei Katalysesysteme entwickelt, die Licht als Energiequelle nutzen, um Ammoniak zu erzeugen [17][18]. Besonders vielversprechend erscheint auch die strombasierte Stickstoffreduktion mittels Elektrokatalyse. Dafür wird der Enzymkomplex Nitrogenasen mit Elektroden kombiniert. Allerdings stehen solche Technologien noch in einer sehr frühen Entwicklungsphase. Allererste Vermarktungskonzepte werden entwickelt, um kleine Apparate auf den Markt zu bringen, die eine dezentrale Düngerproduktion direkt auf dem Bauernhof ermöglichen könnten [19]. Gelänge es, die noch hohen technologischen und wirtschaftlichen Hürden zu überwinden, könnten solche dezentralen Systeme dazu beitragen, die Abhängigkeit der Betriebe von Lieferketten zu reduzieren.
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Büro für Technikfolgen-Abschätzung beim Deutschen Bundestag (TAB) (2024): Foresight-Report 2024. Mit Fokus auf die Infrastruktursysteme Energie, Landwirtschaft und Ernährung sowie Verkehr und Mobilität (Autor/innen: Bledow, N.; Eickhoff, M.; Evers-Wölk, M.; Kahlisch, C.; Kehl, C.; Nolte, R.; Riousset, P.). Berlin. https://foresight.tab-beim-bundestag.de